Unsere Stärken – unsere Schwächen

Nachdem es unsere Schule schon seit mehr als 16 Jahren gibt, können wir ganz gut einschätzen, was wir gut können – und was wir weniger gut können.

Die Kinder, die wir betreuen, weisen ein sehr großes Begabungsspektrum auf. Bei uns sind hochbegabte Kinder, die den Gleichaltrigen fachlich oft um ein bis zwei Jahre voraus sind. Und wir begleiten Kinder, die im herkömmlichen Schulsystem in der Sonderschule wären. Der Abstand zwischen diesen Kindern beträgt oft mehrere Jahre.

Was bei uns wirklich gut funktioniert, ist Individualisierung und gelebte Inklusion: Die Kinder arbeiten gleichzeitig, oft am gleichen Tisch, an unterschiedlichen Dingen. Sie tauschen sich aus, sie wählen je nach Tätigkeit unterschiedliche Arbeitspartner. Es ist normal, dass jeder etwas anderes macht, man braucht sich nicht zu vergleichen und nicht zu messen, man hilft einander, wo es nötig ist. Kein Kind hat das Gefühl, „dumm“ zu sein, denn alle wissen – jeder hat einen anderen Lern- und Lebensweg, jeder arbeitet an seinen Inhalten und jeder gibt sein Bestes. Ein gleicher Standard ist ebenso Illusion wie ein gleiches Leben. In der Freizeit spielt man, wenn man möchte, mit Gleichaltrigen, wo man in der Lernzeit lieber ein Team mit Älteren oder Jüngeren bildet. Das funktioniert hervorragend.

Wache, neugierige Kinder suchen sich die Inhalte, die sie interessieren, und die meisten haben jeden Tag einen Plan, womit sie sich heute beschäftigen wollen. Normal begabte – und umso mehr hochbegabte – Kinder profitieren immens von der Fülle an Angeboten, von den Wahlmöglichkeiten, vom Austausch untereinander und von der Freiheit, im eigenen Tempo zu arbeiten. 

Viel schwerer tun wir uns im Bereich der Sonderpädagogik. Auch wenn wir Erwachsenen nicht vergleichen und nicht bewerten, so tun es die Kinder untereinander. Auch ohne Noten merkt jedes Kind früher oder später, wenn es sie sich deutlich schwerer tut als andere. Es macht die Erfahrung, dass es langsamer ist, es Anleitungen nicht versteht, es viel mehr vergisst und viel mehr Wiederholungen braucht als die Freundinnen und Freunde. Manche Kinder ziehen daraus den Schluss, dass sie mehr arbeiten müssen als die anderen. Diese Kinder sind großartig, es ist eine Freude, mit ihnen zu arbeiten und sie beeindrucken uns immer wieder. Sie wollen weiterkommen und bemühen sich immens. Wir haben hier schon wahre Wunder erlebt: Kinder, die sich die Buchstaben nicht und nicht gemerkt haben, denen wir im Volksschulalter maximal einen positiven Pflichtschulabschluss zugetraut hätten, und die mittlerweile maturiert haben. Sie zeigen uns immer wieder, dass Einsatzwille, Entschlossenheit, Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft mehr zählen als angeborene Intelligenz.

Aber diese Art der Reaktion erleben wir nicht immer. Oft ziehen Kinder die genau umgekehrten Schlüsse: Sie merken, dass für sie alles anstrengender ist als für die anderen und beginnen deshalb, diese Anstrengung zu vermeiden. Da gegenseitige Hilfestellung in der Schule erwünscht ist und gefördert wird, nehmen sie die Hilfe der anderen in Anspruch – und lassen sie für sich arbeiten. Es ist natürlich um Vieles leichter, vom anderen abzuschreiben oder Aufgaben vom anderen erledigen zu lassen, als selbst überproportional viel Zeit und Mühe zu investieren. Nun beginnt aber eine negative Spirale: Die schnellen Kinder arbeiten mehr, erklären mehr, machen sich mehr Gedanken – und die langsamen Kinder arbeiten weniger und lassen die anderen für sich denken. Wodurch die Schere aufgeht.

 

So eine Situation entgeht uns nicht, wir sehen, was passiert, wir besprechen es, aber wir haben wenig Möglichkeiten, sie zu stoppen. Wir haben keine Zwangsmittel, wir können die Kinder nicht nötigen. Wir versuchen mit anderen Darbietungsformen, mit dem Ansetzen bei niedrigeren Entwicklungsstufen, beim Kompensieren mangelnder Sinneserfahrungen, mit Intermodalität, mit Kunstformen, mit besonderen Interventionen die Entwicklung zu fördern. Aber wir sind auf die Kooperation der Kinder und auf ihre „Selbstwirksamkeitsüberzeugung“ angewiesen. Wollen Kinder – oder Jugendliche – lieber raufen, blödeln, aus dem Fenster schauen, sich langweilen, cool sein oder „chillen“ anstatt zu lernen, haben wir keine Druckmittel, um das zu ändern.

 

Jetzt kommt es stark auf die Einstellung des Elternhauses an: Wissen die Eltern, dass ihr Kind mit Sicherheit keine akademische Karriere einschlagen wird und sind sie bereit auch eine handwerkliche Laufbahn zu unterstützen, dann klappt die Zusammenarbeit erfahrungsgemäß wunderbar: Die Eltern sind glücklich, dass ihr Kind nicht in ein „Sonderschul-Eck“ geschoben wird, sie vertrauen darauf, dass die Schule alles tut, um ihr Kind optimal zu unterstützen, und sie sind bereit, mit ihrem Kind auch zu Hause zu arbeiten. Dann wird das Kind, sofern es nicht schwerstbehindert ist, in neun bis zehn Jahren einen positiven Pflichtschulabschluss erreichen. Irgendwann wollen die Kinder ja selbst die Schule verlassen und spätestens dann sind sie bereit sich richtig „reinzutigern“, um die notwendigen Grundkompetenzen für den Beginn einer Lehre zu erreichen. Es gibt in der ganzen Schulgeschichte kein einziges Gegenbeispiel. Sie haben es alle geschafft.

 

Leider gibt es aber auch Eltern, die Lernschwächen, Wahrnehmungsstörungen, Entwicklungsverzögerungen, Konzentrationsdefizite oder auch Leistungsverweigerung ihres Kindes nicht wahrhaben wollen. Sie planen für ihr Kind Oberstufe, Matura, Studium – und wenn das Kind sich nicht gemäß dieses Plans entwickelt, wird die Schuld bei der Schule gesehen. Die Unsicherheit wächst, das Schulsystem, die Methoden, die Lehrkräfte werden infrage gestellt, es wird immer lauter nach mehr individueller Unterstützung gerufen – was die Kinder immer unselbständiger werden lässt.

 

Diese Eltern wollen dann zwar weiterhin jeden Druck von ihrem Kind fernhalten, machen aber großen Druck auf die Schule, was dazu führt, dass auch das Kind mehr Druck spürt. Es beschwert sich zu Hause, worauf die Eltern die Schule noch kritischer sehen. Die Eltern werden immer unsicherer, was automatisch auch beim Kind zu mehr und mehr Unsicherheit und unweigerlich zu weniger Offenheit und Lernfreude führt. Beginnt so eine Spirale, gibt es kaum Möglichkeiten, sie zu unterbrechen. Wir haben sie oft erlebt, wir kennen den Ablauf aber kein Exit-Szenario. Es endet immer in Konflikten, Frust und Enttäuschung auf beiden Seiten.

 

Darum wollen wir offen sein: Kinder, die Lernschwierigkeiten oder schon im Vorschulalter deutliche Sprachschwierigkeiten haben, sind vermutlich in einer Regelschule, wo es Notendruck, strukturierte Aufgabenstellungen, ein vordefiniertes Pensum, tägliche und klar definierte Hausaufgaben gibt, besser aufgehoben. Die intensivere sonderpädagogische Förderung gibt es sicher in einer guten, darauf ausgerichteten öffentlichen Schule und die Möglichkeiten, Kinder auch gegen ihren Willen zu fordern, sind dort sicher größer.